WHITE FROST "Aquamarin"
Leseprobe - Kapitel 1:
1
Die junge Weiße Schäferhündin streckte ihre Nase durch den Türspalt. Irgendetwas war heute anders, sie spürte es genau. Vorsichtig setzte sie eine Pfote hinaus und blickte sich verunsichert um.
"Nun geh' schon, Aqua, du stehst im Weg", drängte das Mädchen lachend und öffnete die Haustür vollständig. Aus der Küche ertönte die Stimme ihrer Mutter: "Annika, nimm das Handy mit! Und geh nicht zu weit, es ist bereits spät ...."Annika verdrehte die Augen. Ihre Mutter fügte besorgt hinzu: "... und behalte Aqua an der Leine, sie braucht sich nur zu erschrecken ..."
"Jaja ...", murmelte Annika, hakte die Leine ein und trat hinaus. Aquamarin schien auf dieses Signal gewartet zu haben. Ihre Zurückhaltung verwandelte sich augenblicklich in Freude, die Unsicherheit war vergessen. Fröhlich bellend rannte sie ins Freie und zog Annika mit sich. Das Mädchen stolperte hinter ihr her und beantwortete das: "Hast du gehört?" ihrer Mutter mit einem deutlichen, aber genervten: "Jaha!". Zu Aqua gewandt flüsterte sie: "Sie hat so viel Angst, dass dir etwas passieren könnte. Nelly und Lasse würden uns das niemals verzeihen. Aber ich passe schon auf dich auf."
Ihre Mutter blickte aus dem Fenster, winkte ihr nach und seufzte leise. In den letzten Monaten war die 11jährige Annika viel selbstständiger und ernsthafter geworden. Nach der Schule fuhr sie oft zu ihren Freunden Nelly und Lasse, um Aqua zu besuchen. Sie lächelte leise. Annika ahnte noch nichts davon, aber ein Welpe aus dem nächsten Wurf war bereits für sie reserviert.
Annika strich Aqua durch das lange, weiche Fell, winkte fröhlich zurück und ging langsam weiter. Die Hündin bellte auffordernd, aber Annika beachtete sie nicht. Ihre Aufmerksamkeit galt der Umgebung. Noch war alles ruhig, doch in knapp zwei Stunden würden sich die Menschen hier versammeln, um das neue Jahr zu begrüßen. "Der erste Silvesterabend deines Lebens", erklärte Annika der Hündin. Sie bog den schmalen Pfad zum Waldrand ein. Dort würde sie mit Aqua etwas spielen können. Es war wichtig, dass sie sich an das Krachen und Heulen, das bereits jetzt aus der Ferne zu hören war, gewöhnte. Von Annika hing es ab, ob Aqua zukünftig Silvesterabende und Feuerwerk als normal betrachten würde. Sie war stolz, dass Nelly und Lasse ihr diese Verantwortung übertragen hatten.
Ein lautes Grölen riss sie aus ihren Gedanken. Aus dem Schatten einiger Bäume traten drei Gestalten hervor. Erschreckt blieb sie stehen. Sie kannte die drei und ging ihnen möglichst aus dem Weg. Mats, Lennart und Tomas waren einige Jahre älter als sie, wohnten in der Nachbarschaft und gingen auf die gleiche Schule. Unwillkürlich fasste sie Aquas Leine fester.
"Kleine Mädchen wie du sollten so spät nicht mehr auf der Straße sein", tönte einer der Jungen. Die Stimme klang unsicher. Jeder hatte eine weiße Flasche in der Hand.
‚Alkohol', dachte Annika. ‚Wahrscheinlich selbst gebrannt. Heimlich. Irgendwo in einer Garage.'
"Lasst mich bitte vorbei", sagte sie und bemühte sich, ihrer Stimme einen sicheren Klang zu geben.
"Fühlst dich wohl stark mit deinem Hund, was?" Aqua grummelte leise, als der Wortführer sich näherte. Langsam wich sie hinter Annika zurück.
"Buuuuh!", machte er und fuchtelte mit den Armen. Im gleichen Moment sprang Aqua nach vorne und begann, wild zu bellen.
"Nicht, Aqua", murmelte Annika. Tomas sprang ängstlich zurück und verlor dabei fast das Gleichgewicht. Wütend schlug er nach Aqua. Annika drehte sich um und zog die Hündin mit sich. Sie wollte nur noch nach Hause.
"Nee, kleine Annika", grinste Mats und rempelte sie an. "Wir können doch zusammen ein bisschen feiern. Schau mal, das ist was ganz Besonderes." Er bot ihr die Flasche an.
Angewidert antwortete Annika: "Lasst mich in Ruhe!"
Lennart raunte seinen Freunden zu: "Lasst sie gehen. Sie kennt uns. Das gibt Ärger!"
"Der Hund wollte mich beißen!", schimpfte Tomas. Seine Stimme überschlug sich. Mats liess sie noch immer nicht vorbei. Tomas torkelte nochmals schimpfend auf Aqua zu. Annika bemühte sich, die junge Hündin unter Kontrolle zu halten, die sich mehr und mehr aufregte.
"Hör auf jetzt, Aqua!", schimpfte sie, aber ihre Angst übertrug sich auf die Hündin.
Mats wandte sich ab und drehte sich kurz darauf mit einem triumphierenden Lächeln um. In der rechten Hand hielt er einen brennenden Silvesterkracher. Bevor Annika reagieren konnte, warf Mats den Kracher gezielt in Aquas Richtung. Neugierig beugte die Hündin sich über die brennende Lunte.
"Nein!", schrie Annika. Sie versuchte, Aqua aus der Gefahrenzone zu ziehen. Fast im gleichen Moment zerriss ein unglaublicher Knall die Stille. Der Kracher explodierte genau zwischen Aquas Vorderpfoten.
"Treffer!", lachte Tomas. Annika registrierte das Lachen der Jungen nicht. Aqua jaulte und schrie in den höchsten Tönen.
"NEIN!", schrie Annika erneut. Bevor sie sich um die Hündin kümmern konnte, griff Mats ihren Arm und drehte ihn auf den Rücken.
"Ich warne dich", drohte er, "wenn du petzt, bekommst du einen Kracher in den Ausschnitt! Versprochen!" Mit diesen Worten drehte er sich um und rannte mit seinen Freunden davon.
Zitternd beugte sich Annika über die wimmernde Aqua. Der Brustkorb war versengt, das Blut lief auf die Straße hinunter. Aqua atmete keuchend. Die verängstigten, braunen Augen waren auf Annika gerichtet.
"Hilfe!", flüsterte Annika. Der Waldweg war verlassen. Bis auf vereinzeltes Krachen und Heulen aus der Ferne war es still. Niemand hatte den Zwischenfall am Waldrand bemerkt. Unbeholfen strich Annika durch Aquas Fell. Die Verletzung sah furchtbar aus, Aquas Brust bestand aus rotem Fleisch und schwarzen, verbrannten Fellfetzen. Die Hündin wurde ruhiger, das Jammern leiser. Dann hörte es ganz auf. Aqua lag mit geschlossenen Augen auf der Seite.
‚Ein Hund kann nicht ohnmächtig werden. Er stirbt einfach, wenn er zu viel Blut verloren hat.' Nellys Worte, leichtfertig dahin gesagt. Jetzt musste Annika daran denken während. Aquas Blut im Boden versickerte.
Das weitere Schicksal von Aquamarin wird im dritten Band von "White Frost" beschrieben. Dieser wird voraussichtich Mitte bis Ende 2013 erscheinen.