Fotomarathon Bremen 2015

Wie gut muss ein Fotograf sein, um die Herausforderung eines Marathons anzunehmen? Das war die grundsätzliche Frage, die ich mir stellte, als ich vom Fotomarathon Bremen erfuhr. Klar, ich verüge über eine Kamera, ich fotografiere seit meiner Jugend mehr oder weniger häufig, gehöre allerdings nicht zu den "Urlaubsfotografen", sondern es macht mir einfach Süpaß, Szenen und auch Alltägliches im Bild festzuhalten. Reicht das aus?

Oder sollte die Frage besser heißen: Habe ich Lust dazu? Habe ich den Mut, die Ergebnisse einer kritischen Jury vorzulegen und gegebenenfalls ein niederschmetterndes Ergebnis zu kassieren? Einige Stunden später - nach dem Studium einiger Aufgabenstellungen und Ergebnisse anderer Fotomarathons - beantwortete ich diese Frage mit einem noch immer zögernden "Ja". Anmeldung ausgefüllt, Startgeld bezahlt ... und immer noch blieb dieses verdammt mulmige Geffühl. Welche Aufgaben kommen auf mich zu? Wie anstrengend wird das? Fällt mir zu den Themen überhaupt etwas ein? Bin ich kreativ genug?

Die Zeit verging, die Fragen blieben. Beantwortet wurden sie erst am 12. September. Nein, ich hatte meine Anmeldung nicht zurückgezogen, sondern machte mich gemeinsam mit Peter auf den Weg nach Bremen, wo zunächst das Polizeiaufgebot nicht nur Respekt einflößte, sondern auch auf die kommenden möglichen Schwierigkeiten hindeutete. Was würde in der Innenstadt gesperrt sein? Wie schnell kommt man von A nach B, wenn die Straßenbahnen Umwege machen müssen?

Die Regeln waren einfach: 9 Stunden (von 11 bis 20 Uhr) war Zeit, um 9 Fotos zu machen. Die Themen wurden in 3er Gruppen an den Stationen mitgeteilt. Um 20 Uhr durften nur noch 9 Fotos in der Reihenfolge der Themen auf der Speicherkarte sein. Schien leicht machbar, am Ende war die Zeit der größte Feind.

Das alles war bald gleichgültig, denn um Punkt 11 Uhr wurden die ersten Themen ausgehändigt. "Abgefahren", "Aufgetakelt" und "Überschäumend" waren im Bild zu interpretieren.

Thema 1: Abgefahren

Nichts lag näher als der Hauptbahnhof. Aber ein abfahrender Zug? Langweilig. Es ging zumindest mir um "andere" Sichtweisen der Themen. Brainstorming mit Peter. Abgefahren ist ein weitläufiges Thema, das alles ungewöhnliche beinhaltet. Im Buschwerk verborgen entdeckte ich auf dem Weg zum Bahnhof ein altes Bahnwärterhäuschen. Relikt aus vergangenen Zeiten, ein altes Plakat des Autozuges wirkte vergessen in der zersprungenen Scheibe. Die Drapierung der Startnummer war noch das Schwierigste an der Realisierung. Weiter ging es mit dem Gefühl: bis Thema 2 realisiert ist, bleibt noch Zeit, das erste Foto zu ersetzen, falls sich etwas Passenderes findet.













Thema 2: Aufgetakelt

Aufgetakelt - erster Gedanke: ein Schiff. Zweiter Gedanke: eine Schaufensterpuppe eines hochpreisigen Ladens. Dritter Gedanke: Brautmoden. Jetzt kam die Wegplanung ins Spiel. Im Blick war bereits Thema drei: Überschäumend. Hier hatte ich ein klares Ziel, nämlich den Marcusbrunnen auf dem Domshof. Nur dort schäumt das Wasser, denn das Weserwehr kostete zuviel Zeit. Da wir zu zweit unterwegs waren, brauchten wir auch für jedes Thema zwei Umsetzungen, was den Zeitfaktor arg verschlechterte. Aufgetakelt ist ein Schiff mit vollen Segeln; ärgerlich, wenn Fotos von der Sail zuhauf auf dem heimischen PC sind, diese aber nicht verwendet werden dürfen. Trotzdem steuerten wir die Weser an. Das Foto vom Pannekokenshiß mißlang, jede Perspektive wirkte unbefriedigend. Wir bummelten über den Flohmarkt ... vielleicht ein Schmuckfoto? Möglich, aber der Gedanke überzeugte mich nicht. Ein Schiffsmodell stach uns ins Auge. Der Verkäufer grinste bereits. Wir waren nicht die ersten Fotointeressenten. Andere Inszenierung des Fotos? Zu gefährlich. Wir gingen unverrichteter Dinge weiter Richtung Schnoor, das nächste Ziel für "aufgetakelt" war der Modellbastelladen. Nach einem Abstecher in die Kirche (dieser Beistand kann ja nie schaden) kurze Pause. Mein Blick fiel auf eine Zeichnung an einer Häuserfront. Schiffe mit geblähten Segeln. Motiv gefunden. Ich setzte es um. Im Schnoor fand auch Peter ganz unvermutet sein Motiv. Ein Kunstwerk, der Künstler jedoch nicht vor Ort und auch telefonisch nicht zu erreichen. Wir hinterliessen Handynummer und Peter lichtete sein Motiv ab - mit der Hoffnung auf spätere Genehmigung. Das Thema hatte uns RICHTIG Zeit gekostet.



Thema 3: Überschäumend

Glück muss man auch haben. Bei unserem ersten Besuch des Marcusbrunnens war dieser von einem großen Polizeiaufgebot abgesperrt. Ein Marathonteilnehmer versuchte bereits, die Beamten zu überreden, ihn "mal eben" zum Brunnen zu lassen. Keine Ausnahme. Wir verzichteten auf eine Diskussion und machten uns auf den Weg zur Schlachte. Jetzt, nach dem Ausflug durch den Schnoor, war der Weg frei. Wir waren nicht die ersten, aber das war - auch in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit - jetzt egal. Ich entschied mich für mehrere Gegenlichtvarianten - eine endgültige Entscheidung und das Löschen wurden aufgeschoben.
Zeit, die nächsten Themen abzuholen. Der erste Kontrollpunkt war in der Botanica. Rhododendronpark, na prima. Straßenbahn oder Auto? Wir entschieden uns für die Straßenbahn, da der Bahnhofsdurchgang gesperrt sein sollte. Unsere Straßenbahn stoppte kurz vor dem Hauptbahnhof. Wegen einer Demonstration .... jaha ... kurze Lagebesprechung. Doch das Auto holen? Anruf bei den Organisatoren, Ankündigung unserer Verspätung. Kein Thema, wir waren nicht die einzigen, der Kontrollpunkt wurde aufrecht erhalten. Kurz darauf war der Bahnhofsvorplatz geräumt und es ging weiter. Ein langer Fußmarsch von der Straßenbahnhaltestelle zur Botanika stand uns bevor. Die ersten Rückkehrer fotografierten die Villen der Markusallee. Aha. Nächstes Thema Architektur? Wir spekulierten, während sich der Fußmarsch ins Endlose zog.
Pause in der Botanika. Die bunten Blumen, die Atmosphäre dort zeigte beruhigende Wirkung. Die Hoffnung auf Thema "aufgeblüht" erfüllte sich nicht. Die nächsten Themen lauteten: 4. Speckgürtel, 5. Stadtpflanze und 6. Landei. Auf dem Rückweg zur Haltestelle erneutes Brainstorming.



Thema 4: Speckgürtel

Meiner Meinung nach war das eines der schwierigsten Themen. Das Wort ist bekannt, aber wie setzt man es fototechnisch um? Erster Gedanke: Schrebergarten, der wirkte aber unpassend. Außerdem ...man ahnt es bereits ... war da das Zeitproblem. Wir hatten 2 Stunden bis zur nächsten Station und die befand sich in der Überseestadt. Langsam bummelten wir zur Haltestelle, zwischendurch fielen Worte, Intuitionen. Linie 4 ... Lilienthal, klar: Speckgürtel. Das Foto wurde realisiert, endete aber später in der Löschaktion. Mein Motiv fand ich am Altenheim Markusallee. Die dunkle, graue Toreinfahrt mit Blick auf das Grün in der Ferne. Symbolik, die zumindest für mich zutraf.













Thema 5: Stadtpflanze

Dazu hatte ich sofort eine Idee. Der blühende Löwenzahn im Asphalt. Ein ähnliches Foto realisierte ich direkt vor dem Altenheim, aber es war mir auch klar: das ist ein Notfallfoto. Diese Idee drängte sich förmlich auf, eine Alternative wäre nett. Mit der Bahn ging es zurück in die Innenstadt. Das nächste Motiv, das Landei, machte mir mehr Sorgen als dieses. Wir entschieden uns, durch die Innenstadt zu bummeln und alles auf uns wirken zu lassen. In der Knochenhauerstraße wurde ich fündig. Ein Italiener hatte Kräuter auf dem Tisch stehen. Richtig, das war mir bereits bei einem früheren Stadtbesuch aufgefallen. Nett, grün und ein Blickfang. Diesen hielt ich als Stadtpflanze im Bild fest und löschte das "Asphaltgestrüpp". Spannend war auch die völlig konträre Umsetzung des Themas durch meinen Mann.










Thema 6: Landei

Landei. Abgesehen von der wörtlichen Umsetzung, einem Plakat oder einer fotografierten Eierpackung erschien mir ein Foto eines Wochenmarktes am naheliegendsten. Doch: Es war bereits später Nachmittag, der Wochenmarkt auf dem Domshof wegen der Demo sowieso geräumt und der einzige Ort, der mir noch einfiel, waren die Stände auf dem Hanseatenhof. Wir waren sowieso in der Nähe. Kurze Getränkepause. Durchatmen, Entspannung. Einmal wegträumen, auch dem Gehirn eine Pause gönnen. Auch danach machte das Landei noch Probleme. Der Speckgürtel fällt einem zu, doch das Landei blieb verschwunden. Peter kam schließlich mit der für mich zündenden Idee. Gummistiefel. Zurück zum Schuhregal in der Sögestraße. Dort waren mir diverse Gummistiefel ins Auge gefallen. Ein wenig in Reihenfolge gebracht, ein paar Persöektiven ausprobiert und das "Landei" war Geschichte. Puuuuh. Nun aber fix. 16.45, ab Richtung Bahnhof und Bürgerweide. Da auch die nächste Station weiter von der nächsten Straßenbahnhaltestelle entfernt war, entschieden wir uns, mit dem Auto in die Überseestadt zu fahren. Parkplatzprobleme dürften dort nicht bestehen.
Im Lloyd-Café erwartete uns eine Überraschung. Gesponserter Kaffee und Butterkuchen luden zum kurzen Verweilen ein. Entspannte und weniger entspannte Fotografen genossen die Pause und machten sich dann auf zur letzten Etappe, um sich den neuen Herausforderungen zu stellen.





Thema 7: Heißes Pflaster

Idee 1: Fehlanzeige. Idee 2: Fehlanzeige. Mir fiel nichts ein, ausser den Pflastern, die ich in meiner Handtasche hatte. Die waren alles andere als heiß, es waren einfach nur Pflaster. Man könnte sie anzünden, ja. Ich bekam weitere Bedenkzeit, Peter wollte zum Weserstadion. Das passte in zweierlei Hinsicht. Zum einen wegen des Themas und zum anderen, weil durch den Endpunkt Goethetheater nahelag, das Auto jetzt wieder abzustellen. In der Theatergarage. Also mit Auto zunächst zum Osterdeich. Am Ende ein überflüssiger Abstecher, da auch das Weserstadion bei Peter nicht in die Endauswahl kam. Immerhin hatte auch mein Nachdenken Erfolg: Noch einmal Domshof. Ich entschied mich beim Thema "Heißes Pflaster" für eine Aufnahme des Spucksteins mit dem Domportal im Hintergrund. Es wurde die einzige Aufnahme, die ich in schwarz-weiß realisierte.










Thema 8: Freier Fall

Ebenfalls ein herausforderndes Thema, das man von völlig unterschiedlichen Seiten angehen konnte. In der direkten Auslegung konnte man etwas im Fall fotografieren. Ein Teil, das in den Mülleimer geworfen wird. Ein Geldstück in die Schale eines Obdachlosen - eine nette Doppeldeutigkeit dazu. Mit einer problematischen rechtlichen Situation. Klar war nur: wir mussten in der Innenstadt bleiben. Für die letzten beiden Themen blieb uns eine knappe Stunde. Inklusive Zeit zum Löschen der überflüssigen Fotos und der Fahrt zum Goetheplatz.
Zum ersten Mal teilten wir uns auf, um Zeit zu sparen. Peter blieb beim Dom, ich hatte eine andere Idee. Freier Fall: was war (im übertragenen Sinne) naheliegender als die Schuldenuhr? Inzwischen begann die hereinbrechende Dunkelheit die Belichtung zu erschweren. Dafür gab es beim Motiv kaum Varianten in der Umsetzung, Verkehrsschilder und Pflanzen, Ampeln und ähnliches liessen wenig Spielraum für Kreativität.










Thema 9: Gute Stube

Mein persönliches Waterloo. Ich brauchte Zeit, die ich nicht mehr hatte. Gute Stube. Marktplatz, da gab es kaum andere Auslegungsmöglichkeiten für mich. Ein uriges Café, ein kuscheliges, altmodisches Restaurant,das wären meine Alternativen gewesen. Aber: mir fiel keine Örtlichkeit ein. Das Katzencafé im Schnoor ... aber der Schnoor zählt nicht mehr zu Bremens guter Stube, außerdem brauchten wir ja zwei Varianten. Also Marktplatz. Die Dunkelheit erforderte lange Belichtungszeiten, das Stativ lag im Auto in der Theatergarage. Grmbl. Der Nachtwächter lief mit Touristengruppen umher, aber irgendwie ... nein, das war es nicht. Ich wollte eine Szene, etwas Typisches einfangen, etwas Besonderes, das sich auf dem Marktplatz abspielt. Doch ich erkannte schnell: keine Chance. Ich hatte dafür nicht mehr die Ruhe. Ich hätte eine oder zwei Stunden gebraucht, um mich in ein Café zu setzen, um die Szenerie auf mich wirken zu lassen. Und im geeigneten Moment zu fotografieren. Und da war auch noch Trotz: Nein, ich fotografiere NICHT das Rathaus, den Dom oder den Roland. Am Ende war ich mit dem Ergebnis nicht wirklich zufrieden, aber es war eine nicht alltägliche Szene.








Geschafft!

Ein letztes Mal in die Straßenbahn. Erschöpft, stolz, aber nicht vollständig zufrieden. Was ich vorher nie erwartet hatte, war eingetreten: ich hätte mehr Zeit gebraucht, um "läppische" 9 Fotos zu machen. Zu anspruchsvoll, zu perfektionistisch, zu kreativ? Hat es Spaß gemacht? Ja, aber irgendwie überwog zu diesem Zeitpunkt (eigentlich bis zum nächsten Morgen) die Erschöpfung. Klar, es ist anstrengend, 9 Stunden durch die Stadt zu laufen. Was ich nicht erwartet hatte, war die mentale Erschöpfung, die erst spürbar wurde, als die Aufgaben erfüllt waren. Der Fotomarathon war eine Herausforderung, aber es ist ein tolles Gefühl, sie angenommen und bewältigt zu haben. Ich weiß jetzt, dass ich Themen umsetzen kann, dass manche Themen zunächst unüberwindbar scheinen und die Lösung plötzlich auf der Hand liegt. Dass man bei anderen Themen Ideen hat und sie nicht umsetzen kann, weil man zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Das Akzeptieren dieser Tatsachen ist ebenfalls nicht einfach. Das nächste Mal (ja, sicher wird es das geben) wird anders, weil die Erfahrungen einfließen.

Es bleibt eine weitere Spannung. Auf die Ausstellung am 12. Oktober, auf der alle Umsetzungen der Themen zu sehen sein werden. Die hier gezeigte ist nur eine Sichtweise der Themen. Und natürlich ist es interessant zu sehen, welche Orte und Motive die anderen gewählt haben.








Bis zum nächsten Mal!

copyright: Gaby von Döllen, September 2015

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